„Modediagnose“

Den Begriff nehmen erstmal viele in den Mund, wenn sie Autismus oder AD(H)S hören. „Ist halt eine Modediagnose“ – Wie oft ich diese Aussage inzwischen – allein im letzten Jahr – gehört habe und jedes Mal vor nervösem Kribbeln am liebsten bis an die Decke gesprungen und zwei Mal um den nächsten Häuserblock gerannt wäre, kann ich garnicht zählen.

Doch der Begriff „Modediagnose“ selbst stört mich garnicht so sehr wie die Funktion dieser Aussage, mit welcher die vorhandene Problemstellung einfach relativiert, also abgemildert, und als „nicht wert, sich näher damit zu beschäftigen“ abgetan wird.

Denn auch wenn ein Problem scheinbar eine Modeerscheinung ist, hilft es mir nicht, es einfach als solch eine abzutun und der Ursache nicht auf den Grund zu gehen. Ich kann mir ein Problem ja nicht einfach „wegdefinieren“.

Stattdessen sollte man sich die Frage stellen, warum die Diagnose inzwischen so häufig gestellt und scheinbar zur Modediagnose wird. Was hat sich in der Gesellschaft verändert? Wie kommt es zu einer Diagnosestellung? Und was ändert eine Diagnose für Betroffene?

Dass die Prävalenzrate für Autismus zurzeit scheinbar immer weiter ansteigt und es inzwischen Studien gibt, die davon ausgehen, dass etwa 1 von 36 Kindern von Autismus betroffen ist, liegt jedenfalls nicht etwa daran, dass plötzlich mehr Kinder autistisch sind.

Es liegt daran, dass sich einerseits – durch vermehrte Auseinandersetzung mit dem Thema – die Kriterien für die Diagnosestellung verbessert haben und andererseits die Gesellschaft sich dahingehend entwickelt, dass es für Autisten immer schwerer wird dem System gerecht zu werden, wodurch das Bedürfnis nach Unterstützung zunimmt und das System wiederum gezwungen wird, sich näher mit Thema Autismus auseinander zu setzen.

Diese Auseinandersetzung hat mehrere Folgen. Einerseits wird die Forschung bezüglich Autismus vorangetrieben, die Diagnosekriterien verbessern sich und man entdeckt innerhalb von Studien immer mehr Autisten, die zuvor aufgrund von Verdeckungsmechanismen nicht als solche erkannt worden wären.

Andererseits beginnen sich auch die Medien mit dem Thema zu beschäftigen, es werden Vorurteile in der Gesellschaft verankert und Meinungen gebildet, ohne sich wirklich mit dem Thema auseinandergesetzt zu haben.

Was hierbei auf der Strecke bleibt ist allerdings, die Bevölkerung mal wirklich aufzuklären – darüber, was Autismus wirklich ist, dass es Autismus immer gab und die heutige Zeit einfach Probleme aufwirft, die von Autisten auch mit einer Vielzahl an Anpassungsstrategien nicht mehr ohne gesundheitliche Folgen kompensiert werden können.

Stattdessen wird versucht Methoden zu suchen, um Autismus zu verhindern, früh zu erkennen, zu heilen, weg zu therapieren oder wenigstens unsichtbar zu machen.

Aber Autismus ist keine Krankheit. Es ist eine Wesensart, eine andere Art zu denken, eine neurologische Verschiedenartigkeit, eine nicht der Mehrheit entsprechende Art wahrzunehmen und zu erleben mit fließendem Übergang zur „Normalität“ und man kann es weder heilen noch weg therapieren, nur eben, in manchen Fällen, unsichtbar machen, wodurch das Problem selbst natürlich nicht verschwindet.

Was wir allerdings können, ist es Möglichkeiten zu entwickeln um die vielfach vorhandenen Stärken dieser Menschen zu fördern und dadurch für unsere Gesellschaft nutzbar zu machen.

Und genau dafür wäre es sinnvoll, dass sich unsere Gesellschaft mit unserer neurologischen Vielfalt auseinandersetzt und jeden Menschen – egal ob dem Autismus- oder AD(H)S-Spektrum zugehörig, hochsensibel, legasthen, dyskalkul, dyspraxisch oder neurotypisch – ganzheitlich betrachtet und individuell fördert.

Aber vorerst bleibt das wohl eine Wunschvorstellung, denn auch wenn eigentlich uns Autisten immer wieder vorgeworfen wird, dass wir uns schlecht anpassen könnten, fällt es auch neurotypischen Menschen nicht leicht sich an neue Situationen und Problemstellungen anzupassen.

Lieber drückt man einem Problem einen Stempel auf und versteckt es in der Schublade, als dass man sich damit beschäftigt, was sich verändern könnte, damit aus dem Problem vielleicht sogar eine neue Möglichkeit wird.

Aber bis unsere Gesellschaft das verstanden hat und sich in unserem immer weniger flexibler werdenden System etwas ändert, helfen die Stempel Autismus, AD(H)S und Co dabei, dass Betroffenen mit ihren Problemstellungen nicht alleine fühlen, hoffentlich professionelle Beratung bekommen und entsprechende Rücksichtnahme erfahren.

Und nun zurück zum Thema Modediagnose – allein die Tatsache, dass eine Diagnose in Mode kommt, sollte uns doch aufrütteln und darüber nachdenken lassen, wie es überhaupt zu so einer Modeerscheinung kommt. Wenn man sich das nämlich genauer überlegt, so ist der Begriff „Modediagnose“ alles andere als beruhigend.

Es ist dann eben nicht nur „halt eine Modediagnose“, sondern eine Diagnose, die besorgniserregend häufig gestellt wird und auf ein schwerwiegendes Problem in unser Gesellschaft hinweist.

Ein Kommentar zu „„Modediagnose“

  1. Sehr wahr, liebe Chiara.
    Ich sehe es daran, wie das Schulsystem mit autistischen Schülern heute umgeht – oder generell mit allen Kindern und Jugendlichen, die anders sind – im Gegensatz zu dem, wie ich aufgewachsen bin.

    Damals war man halt einfach ein bisschen (mehr) wunderlich /sonderbar / vorlaut / schwierig. Trotzdem wurde man gleich behandelt. Natürlich mit allen Konsequenzen, die dies mit sich bringt, nämlich Sanktionen gegen unerwünschte Verhaltensweisen, die im Nachhinein betrachtet durch den Autismus zustande kamen, wofür man also quasi „nichts kann“.
    Trotzdem denke ich oft, dass es nicht immer leicht war, aber dass ich nie wirklich unglücklich war und dass es immerhin genützt hat, dass ich nun sehr gut klarkomme.

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