Das schüchterne Mädchen, das sich nicht auf die Toilette traute, oder wenn Regeln handlungsunfähig machen

Klare Anweisungen und Regeln machen mir das Leben häufig leichter. Zu viele und diffuse Regeln oder Aussagen, die vergessen ins Detail zu gehen, können mir das Leben aber ziemlich schwer machen.

Mit dem folgenden Beispiel möchte ich darstellen, wie es aus meiner Perspektive aussah, als ich in der Volksschule durch meinen eigens zusammengestellten Regelkatalog (aus den Aussagen der Erwachsenen) handlungsunfähig wurde.

Damals saß ich in der Klasse und stellte plötzlich fest, dass ich ziemlich dringend meine Blase entleeren müsste. Es war gerade ein Aufgabenwechsel, sonst hätte ich es wahrscheinlich garnicht bemerkt (im Hyperfokus blende ich alles andere aus).

Meine liebe Volkschullehrerin stand an der Tafel und erklärte etwas. Was erklärt wurde, erreichte mich nicht – wie wenn man einer Person zuhörte, die sehr schnell eine andere Sprache spricht. Es klang aber sehr wichtig.

Auch die anderen Kinder schienen alle aufmerksam zuzuhören, also abgesehen von einem Kind, dass in Heft und Bücher Eselsohren faltete, ein Kind, dass den Inhalt seines Tischkistchen durchwühlte, ein Kind, dass mit dem Sessel zurück rückte, um scheinbar zu prüfen, ob die Hände dann noch an den Tisch reichen würden und natürlich ich, indem ich beobachtete statt aufzupassen, auf meinem Sessel herumrutschte, weil der Urin bereits mit starkem Druck auf den Harnausgang drückte und ich keine Idee hatte, wie ich die Bedingungen für einen Toilettengang erfüllen sollte.

Komisch war vielleicht, dass ich mich nie fragte, ob ich diesen wichtigen Erklärungen nicht eigentlich auch folgen müsste. Allerdings zählte ich mich nicht wirklich zu den anderen Kindern. Es fühlte, oder, besser gesagt, fühlt sich an, als ob ich in einem Theaterstück mitspielen müsste, in dem alle ihre Rollen kennen – nur ich kein Skript bekommen habe. Mit dieser Erklärung schien auch Nachahmen für mich die beste Methode, um mich irgendwie doch zurechtzufinden.

Unangenehmerweise hatte ich aber noch nicht beobachten können, wie die anderen Kinder einen Gang zum Klo vorbereiteten. Jedes Mal, wenn ich bemerkt hatte, dass zwei Kinder auf’s WC gingen, waren sie bereits zu zweit und schon am Weg.

In Gedanken ging ich die Bedingungen und Regeln durch, die ich in den letzten Wochen gelernt hatte:

  1. Wir gehen nur zu zweit auf’s Klo – also muss ich ein zweites Kind finden, aber ohne dass ich den Unterricht unterbrach und plauderte. (Dieses Kunststück schien unmöglich, aber ich wusste auch noch nicht, dass solche Gespräche nicht unter „Plaudern“ fielen)
  2. Wir müssen uns melden, in dem eine Hand nach oben gehalten (meine Hand heben, war mir aufgrund des Stresses noch nicht möglich) und…
  3. …nach der Frage vor allen anderen der Lehrerin antworten, was wir wollen (in diesem Moment versagte normalerweise meine Stimme, ich sprach lautlos oder viel zu leise oder wusste nicht mehr, was ich wollte).
  4. Wir dürfen nicht dauernd auf’s Klo gehen (damals haben es einige übertrieben und ich dachte, nachdem ich zu „wir“ bzw. „ihr“ gehörte, müsste ich darauf achten, dass „wir“ nicht zu oft gehen).
  5. Man darf nicht bei wichtigen Erklärungen unterbrechen (Erwachsene sollte ich ja allgemein nicht unterbrechen) – aber woher weiß ich, wann es als wichtig gilt, und was, wenn ich nicht so lange Zeit hatte bis „wichtig“ vorbei war?
  6. Wir müssen die Toilette bei der Aula aufsuchen und dürfen nicht zu lange brauchen. (Wann weiß ich, ob ich zu lange brauche??)
  7. Ich muss mich auf dem Klo hinsetzen, aber vorher muss ich es mit Papier abdecken, weil es nicht unser Klo ist, darf aber nicht zu viel Papier verwenden, weil das ja Verschwendung war. (Was ist viel Papier?)

Nachdem ich die erste Bedingung schon nicht erfüllen konnte, wäre es eigentlich logisch gesehen sinnlos gewesen, sich mit den anderen Regeln zu beschäftigen. In meinem Kopf standen diese Schritte jedoch in keiner Reihenfolge, was einer der größten Probleme war, weshalb ich die meisten Dinge nicht ausführen konnte – mir fehlte das Bewusstsein dafür, was ich zuerst machen sollte.

In meiner Vorstellung passierte nämlich irgendwie alles auf einmal – vielleicht weil es ja schnell gehen sollte – und damit das alles schnell passieren konnte, musste ich ja genau wissen, was und wie alles passieren sollte. Wenn das nicht der Fall war, konnte ich weder eine Reihenfolge festlegen, noch handeln und es passierten Missgeschicke, wie das folgende:

In meinem Kopf löste sich das Gedankenfeuerwerk auf und im Funkenregen löste sich meine gesamte Anspannung. Ich spürte es warm brennen an meinem rechten Oberschenkel und wie meine Hose nun nass an meinen Schenkeln klebte und hörte wie etwas leise auf den Boden tropfte. „Iiiih“, schrie meine Mitschülerin rechts neben mir. „Da ist es ja nass!“

Der Gestank ätzte in meiner Nase, meine sowieso schon viel zu enge Hose umarmte mich immer fester, es brannte kühl auf meiner Haut und ich hörte wie Stühle quietschend geschoben wurden, Federpenale auf den Boden fielen, Stifte sich am Boden verteilten und das Gemurmel der Kinder den Raum erfüllte und jemand schrie: „Iiiih, Chiara, hast du auf den Sessel gepinkelt?“, während meine Lehrerin zur Ruhe rief.

Nichts davon, löste eine nach außen sichtbare Reaktion meinerseits aus, während ich gedanklich schon furchtbar brennende Ausschläge auf meinen Schenkeln entstehen sah und kalte Schauer durch meinen Brustkorb liefen.

Ich kann nicht genau beschreiben, was dann passierte. Es waren enorm viele Reize, die wie ein unaufhaltsamer Regen von allen Seiten einprasselten, und meine Mama wurde angerufen, die irgendwann mit trockenen Sachen und kleinen Tüchern kam, obwohl ich am liebsten sofort geduscht und gebadet hätte…

In der ersten Klasse war dieser Ausrutscher jetzt nichts, was sich nicht dadurch erklären ließ, dass ich eben so schüchtern war und mich nicht auf die Toilette getraut hätte.

Man erklärte mir, ich müsste mich trauen, dass sowas nicht passieren durfte, fragte immer wieder nach dem „Warum“, aber ließ mir auch keine Zeit, um zu versuchen mich zu erklären. Auch eine Torte habe ich im Kopf und die Forderung, dass ich mich bei der Klasse entschuldigen sollte, was ich nicht verstand, weil mir ja was schlimmes passiert war und nicht den anderen – aber nachdem sich außer mir niemand daran erinnern kann, kann es auch sein, dass mein Gedächtnis da ein bisschen etwas durcheinander bringt…

Ich verstand nämlich meistens nicht, wieso ich mich entschuldigen sollte, weshalb ich auch irgendwann begann mich für alles zu entschuldigen, was irgendwie falsch gewesen sein könnte – etwas, das ich bis heute mache.

Das Beste an dem Ganzen war aber, dass in der Folge allen noch mal erklärt wurde, wie man sich meldet und wo die Toiletten waren, klar wurde, dass man inzwischen doch auch allein gehen konnte, und gemeinsam das Aufzeigen nochmal ausprobiert wurde, regelmäßig auf die Möglichkeit, zur Toilette zu gehen, hingewiesen wurde und auch gefragt wurde, ob jemand gerade auf’s WC müsste. Also eigentlich wurde das Ganze super gelöst – ohne dass irgendjemand meine eigentlichen Problemstellungen kannte, geschweige denn jemand etwas von Autismus geahnt hätte.

Blasentraining absolvierte ich jedoch trotzdem, weil ich fremde Toiletten doch lieber mied, meistens nicht einmal merkte, dass ich klein musste, und ich, wenn nicht gefragt wurde, das Melden zumindest anfangs doch noch für einen etwas zu komplexen Vorgang hielt. Aber immerhin wusste ich, wenn es notwenig war, was zu tun war.

Meine Empfehlungen für den Umgang mit autistischen Kindern in Bezug auf Regeln aus meiner eigenen Erfahrung wären nun, dass…

  1. …es eine überschaubare Anzahl klarer Regeln gibt, die
  2. konkret formuliert und
  3. für das Kind gut sichtbar und leicht lesbar festgehalten werden,
  4. eine klare Reihenfolge angeben,
  5. in den Einzelschritten nicht zu komplex sind, sowie
  6. mit dem Kind einzeln durchgegangen werden,
  7. und dass das Kind explizit zum Nachfragen ermutigt wird (manchmal hilft es auch, ein Beispiel zu geben, was eine solche Frage sein könnte – auch das Formulieren einer Frage ist nämlich nicht immer so leicht).

Diese Regeln könnten auch gemeinsam mit dem Kind erarbeitet werden. Ich denke auch, dass das dem Kind möglicherweise helfen würde, sich mit der Zeit auch selbstständig zu organisieren. Vielleicht wäre eine solche Vorgangsweise ja auch für Kinder außerhalb des Spektrums hin und wieder vorteilhaft.

2 Kommentare zu „Das schüchterne Mädchen, das sich nicht auf die Toilette traute, oder wenn Regeln handlungsunfähig machen

    1. Vielen Dank, liebe Yvii!
      Es ist mir ein großes Anliegen, dass meine Beiträge dabei helfen, Verständnis zu schaffen, damit anderen besser geholfen werden kann!
      Dein Blog ist auch echt gut! Ich habe selber eine ausgeprägte Angststörung und deine Beiträge bringen es wirklich gut auf den Punkt!
      Ganz liebe Grüße,
      Chiara Yasmin

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